Unabhängig von unseren beruflichen Interessen suchen und bilden wir Systeme, um die Dinge um uns herum zu verstehen und nicht unter einem Berg von Einzelerscheinungen zu ersticken. In Systemen versuchen wir, die Dinge und ihre Beziehungen untereinander abzubilden und zu beeinflussen.
Wir formulieren Ziele und um sie zu erreichen, machen wir Pläne und überlegen die dazu notwendigen Bedingungen: Wir entwickeln Programme. Aber wir modifizieren unsere Pläne oft genug, um unser Leben zu gestalten – ereignisreich und überraschend, ohne die Übersicht zu verlieren: Wir programmieren.
„Im Entwerfen der Formel (Tulpenzwiebel), nicht im Entwerfen der Form (Tulpe) liegt das schöpferische Vergnügen.“1 Mit diesem einfachen Bild bringt der Designer Paul Gredinger 1963 das Verhältnis von Stil und System auf den Punkt: Das Ziel des Gestaltens ist es nicht, ein einmaliges Ding zu schaffen, das durch den individuellen Stil des Schöpfers geprägt ist, sondern das gestaltende System zu entwerfen.
Mit einer Erweiterung seines Gedankens um die bewusste Manipulation der Tulpenzwiebel können wir ihm auch den Begriff der Methode in den Mund legen. Dieser Exkurs könnte uns zur Gentechnik führen. Auch sie kann als Gestaltung begriffen werden, ist aber hier nicht gemeint. Als kritikloser Ausdruck einer Technik- und Fortschrittsgläubigkeit hat sie jedoch auch in den 1960er-Jahren ihren Ursprung.
Da Design stets im Spannungsfeld von Kunst, Technologie und dem menschlichen Bedürfnis, den Lebensraum zu gestalten, entsteht und wirkt, setzen sich immer wieder Künstler, Philosophen und Ingenieure, aber auch Designer mit dem Verhältnis von individueller Kreativität und ihrer Allgemeingültigkeit auseinander:
Hat Gestaltung nicht eine größere Allgemeingültigkeit, wenn sie ihre Subjektivität, ihre Einmaligkeit verliert? Kann Gestaltung objektiv sein, wenn sie nicht von nur einem einzelnen Individuum geschaffen wurde, sondern methodisch und somit logisch entstanden ist?
Schon Künstler und Gestalter der Avantgarden des beginnenden 20. Jahrhunderts dachten und experimentierten – inspiriert von den atemberaubenden ingenieurtechnischen Erfindungen jener Zeit – mit Systemen von Zeichen, Farben und Rastern im Sinne einer zeit- und ortsunabhängigen Allgemeingültigkeit: «Bereits das ausgehende 19. Jahrhundert war […] stark durch nicht-künstlerische, visuelle Kommunikationsformen geprägt:
Systematisch aufgebaute kommunikationsorientierte Signal- und Zeichensysteme hatten sich […] in Eisenbahn und Seeverkehr etabliert, drangen als neue Signalisationstechniken zunehmend in die alltägliche Lebenswelt der Menschen vor und wurden auch von den Künstlern der Avantgarde rezipiert.“2
Überdrüssig der überstrapazierten Rolle des hyperpotenten Künstler-‚Schöpfers‘ und getrieben von der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung, suchten sie nach neuen Produktionsmethoden und einer größeren Tragweite ihrer Arbeit. Sie begannen, sich an den Industrieingenieuren der Zeit zu messen.
John Hartfield zog sich 1920 demonstrativ einen Monteuranzug an und signierte seine dadaistischen Fotocollagen nicht mehr wie üblich als Maler (mit ‚pinx.‘), sondern mit ‚mont.‘ – also als Monteur.3 Die Werke der Pioniere der 1920er-Jahre wie Kurt Schwitters (Systemschrift, 1927), El Lissitzky (Buchgestaltung Dlja Golosa, 1923), Karl Peter Röhl (Zeichensprache für alle Gebiete des öffentlichen Lebens, 1926) oder Herbert Bayer (Katalog Section allemande, Société des Artistes décorateurs, Paris, 1930), setzten sich zunehmend mit einer systematischen Kommunizierbarkeit auseinander und zeugten vom Geist einer kosmopolitischen Zukunft.4
Diese Ideen der Moderne wurden nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in der Schweiz durch Künstler und Gestalter wie Max Bill, Josef Müller-Brockmann und Emil Ruder aufgegriffen. Der wirtschaftliche Boom der Nachkriegszeit eröffnete ihnen neue Arbeitsfelder und verlangte für die Flut moderner Produktkataloge, Werbeplakate und Informationsbroschüren effizientere Gestaltungsmethoden, die die Schweizer Designer herausforderten:
„[Sie] organisierten Informationen in grafischen Symbolen, Diagrammen, Listen und Rastern, die schnell von dem geschäftigen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts erfasst werden konnten. […] Entsprechende [Raster und] Stilvorlagen erlaubten den Designern, schnell neue Layouts zu entwickeln. Sie konnten im Rahmen einer begrenzten Anzahl von Möglichkeiten ihre Entscheidungen treffen, anstatt jedes Mal neu zu beginnen. Diese Einschränkung beschleunigte den Prozess und ermutigte die Designer, intuitive Entscheidungen in spezifische Parameter wie Größe, Gewicht, Nähe und Spannung zu übersetzen.“5
Die ‚Schweizer Typografie‘ mit ihren strengen Gestaltungsrastern und der reduzierten Typografie inspirierte die Designer weltweit und prägte mit ihrem kommerziellen Erfolg die visuelle Kultur der Nachkriegszeit vor allem in Europa und den USA. Grafikdesigner wie Karl Gerstner, Herbert W. Kapitzki und Anton Stankowski übertrugen, angeregt durch die technologischen Forschungen der 1960er-Jahre, das Prinzip des parametrisch-typografischen Gestaltens auf den grafischen Entwurfsprozess im Allgemeinen:
„Die Aufgabe beschreiben, ist ein Teil der Lösung. Impliziert: die kreativen Entscheide nicht dem Gefühl entlang treffen, sondern nach intellektuellen Kriterien. Je präziser und vollständiger diese Kriterien sind, desto kreativer ist die Arbeit. Der Schöpfungsprozess ist auf einen Wahlakt reduziert. Entwerfen heisst: Bestimmungsstücke auswählen und verknüpfen.“6
In der Tradition der Avantgarde der 1920er-Jahre erweiterten sie den Gestaltungsbegriff und verglichen die Aufgaben des Designers mit denen des Ingenieurs und Technologen: „Überall dort, wo Entwicklungs- und Herstellungsprozesse zu einem Endzustand geführt werden sollen und mehrere Elemente und Anordnungsmöglichkeiten vorhanden sind, kann von Programmen gesprochen werden.“7
Mit ihren komplexen Versuchsreihen, in denen sie durch parametrisches Wiederholen und Verändern (Permutation) einzelner Zeichen neue grafische Strukturen erzeugen, nahmen sie die programmierbare Gestaltung durch den Computer vorweg.
Die Ergebnisse ihrer (noch) analogen Versuchsreihen zur Dynamisierung von grafischen Systemen aus Text und Bild und ihren methodischen Denkmodellen überführten sie in die Designpraxis – in Form einer bewussten Systematisierung des Entwurfsprozesses und der Entwicklung von Wort-Bild-Marken und flexiblen visuellen Erscheinungsbildern – und setzten international Maßstäbe, die bis heute unsere gestalterische Arbeit beeinflussen.
Durch mehrere Ausstellungen im Museum of Modern Art in New York wurden die Positionen der europäischen Moderne und deren Weiterentwicklung einer breiten Öffentlichkeit in den USA zugänglich gemacht. In Ausstellungen wie ‚The Photographic Poster‘ (1964), ‚The Responsive Eye‘ (1965), ‚Word and Image: Posters and Typography‘ (1968) wurden auch Arbeiten der Schweizer Designer Richard P. Lohse, Armin Hofmann, Herbert Matter und Karl Gerstner gezeigt, dessen programmatischen Untersuchungen sogar eine Einzelausstellung ‚Designing Programs/Programming Designs‘ (1973) gewidmet war.8
Besonders in den USA waren die 1960er-Jahre durch einen fast unerschütterlichen Glauben an einen absoluten Fortschritt durch Technik geprägt. Richard Buckminster Fuller wagte sogar, die Demokratie in ‚die Hände‘ der Computer zu legen: „Politiker [werden] den zuverlässigen Steuerungsfähigkeiten des Computers Platz machen, wenn es um eine glückliche Landung der Menschheit geht.“9
Es war ein Jahrzehnt der Utopien, in dem alles möglich schien (1960 Antibabypille, 1961 erster bemannter Raumflug, 1967 Buckminster-Fuller-Kuppel, 1969 Woodstock Festival, 1969 Mondlandung …), aber auch der gesellschaftlichen Unruhen und blutigen Auseinandersetzungen wie der Bürgerrechtsbewegung und dem Vietnamkrieg.
Mit ihren visionären und gleichzeitig kritischen Positionen zur Wechselbeziehung von gesellschaftlicher und technischer Entwicklung wurden der Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan und der Designer und Philosoph Buckminster Fuller zu intellektuellen Leitfiguren einer entstehenden alternativen Szene, die das traditionelle Autoritäts- und Gesellschaftsmodell infrage stellte und zukunftsweisende Diskussionen über Bürgerrechte, Feminismus, Umwelt, Bildung, Religion und Frieden gesellschaftsfähig machte – im Sinne eines neuen Gemeinschaftsmodells.
Buckminster Fuller sah die Notwendigkeit einer ‚Weltrettung‘, die nur mithilfe des Computers und einer Ablösung jeglicher fachlichen Spezialisierung durch die übergreifende Verantwortung eines Design-Wissenschaftlers erreichbar wäre: „Eine neue metaphysische Initiative, die materiell kompromißlos und von unbeeinflußter Integrität wäre, könnte die Welt einen.
Dies könnte und wird vielleicht von den vollkommen unpersönlichen Problemlösungen der Computer bewerkstelligt werden. Nur der übermenschlichen Kapazität ihrer kalkulatorischen Leistungen könnten alle politischen, religiösen und wissenschaftlichen Führer ihre Zustimmung geben […].“10
Er forderte ein neues Ausbildungskonzept an den Hochschulen: „Sie [die Hochschulen] sollten […] die außergewöhnlichen intellektuellen Ressourcen freisetzen und die verfügbare Zeit der Studenten investieren, um an den Hochschulen die Design-Wissenschaft und ihre Anwendung auf die Weltplanung zu etablieren.“11
Inspiriert von den Vorträgen Buckminster Fullers schuf der studierte Biologe und Netzwerk-Avantgardist Stewart Brand mit dem ‚Whole Earth Catalog‘ eine Plattform für den „alternativen Lebensstil und für die Generation, die die aufkommende Computerindustrie und ihre Anwendungen formte und beeinflußte“12. Der Katalog war eine Art Netzwerk, in dem Abonnenten zu Autoren über verschiedenste Sachgebiete von Landwirtschaft bis Cyberspace wurden: „Computerwissenschaft war um 1968 herum ein cooles, neues Gebiet, und Networking war ‚funky‘.
Das Ethos der Sechziger trug dazu bei, das Evangelium des Networking weiter zu fördern und zu verbreiten.“13 Brand wurde zum Mittler zwischen der Hippieszene von San Francisco und der Hacker- und Cyberkultur des Silicon Valley, die sich gerade entwickelte.
Apple-Gründer Steve Jobs bezeichnete den Katalog als die Bibel seiner Generation: „Eine Art Google als Paperback, 35 Jahre vor Google. Es war ein idealistisches Projekt, prall gefüllt mit tollen Arbeitsmittel und großartigen Gedanken.“14 Brand erhielt für die Gründung und Herausgabe des ‚Whole Earth Catalog‘ 1972 den National Book Award.
An verschiedenen Forschungsinstituten wurden bahnbrechende Erfindungen gemacht, großzügig finanziert u. a. vom US-Verteidigungsministerium: Der Informatiker Ivan Sutherland entwickelt 1963 ‚Sketchpad‘, ein Computerprogramm, das erstmalig Elemente als Objekte versteht, sodass deren Eigenschaften und Beziehungen definierbar und beeinflussbar werden (objektorientierte Programmierung). Es besaß als eine Voraussetzung für die Benutzung durch Nicht-Informatiker eine grafische Benutzeroberfläche.
1963 konstruierte der Ingenieur Douglas Engelbart unter Mitarbeit von Stewart Brand die Computermaus. Stewart Brand war es auch, der den Begriff des ‚Personal Computers‘ prägte. Ab 1968 wird für das ARPANET (Advanced Research Projects Agency Network), der Vorläufer des heutigen Internets, geforscht. Die wichtigsten Voraussetzungen für die Entwicklungen, die uns in das digitale Zeitalter führten, wurden in den 1960er geschaffen.
Auszug aus der Publikation: Stil System Methoden.
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