Die Forschungserfolge in der Computertechnologie in den 1960er-Jahren entfachten weltweit eine wahre Begeisterung – auch für künstlerische Experimente, die nun tatsächlich mithilfe eines Computers umgesetzt werden konnten: „In den Künsten, den freien und den angewandten, begann in den zurückliegenden Jahren etwas Revolutionäres, nämlich die Verwendung von elektronischen Rechnern und programmgesteuerten Zeichenmaschinen zur Lösung künstlerischer Probleme […]“15
Jedoch waren es nicht Künstler und Gestalter, die sich die neue Technologie wirklich zu eigen machen (konnten). Vorerst suchten Informatiker nach Möglichkeiten der Interaktion von Computer und Mensch und experimentierten mit grafischen Darstellungen.
Es entstand eine internationale Szene, die sich der Informationsästhetik und Computerkunst widmete – technologisch unterstützt von IT-Firmen wie AEG, Siemens und IBM und theoretisch von dem Philosophen und Publizisten Max Bense mit seinen Veröffentlichungen zur Informationsästhetik begleitet.
1965 wurde Computergrafik erstmalig ausgestellt – mit Arbeiten von den deutschen Pionieren der generativen Grafik Frieder Nake und Georg Nees. Das Kunstwerk ließ nicht mehr länger als Original eines individuellen schöpferischen Prozesses definieren, sondern beanspruchte eine Allgemeingültigkeit durch methodische Herstellungsverfahren:
„Wir sprechen von moderner Ästhetik, sofern sie mathematische und empirische Verfahrensweisen benutzt, sich abstrakter Vorstellungen und Modelle bedient und neben den numerisch-deskriptiven auch technologische Ziele verfolgt. So ist diese Ästhetik als abstrakte oder auch als mathematische Ästhetik zu bezeichnen.“16
Der Traum der Künstler der 1920er-Jahre wurde greifbar: Die Grenzen zwischen Ingenieurwissenschaften, Philosophie und Kunst schienen sich aufzulösen und die Kunstproduktion war nicht mehr ausschließlich an das Individuum gebunden.
Karl Gerstner griff die Experimente der Avantgarde auf, als er visuelle Systeme auf ihre (werbe-)grafische Bedeutung untersuchte. Seine Arbeiten führten zur konkreten Poesie der 1960er-Jahre, die das System der Sprache und deren Abbild hinterfragte:
„Wie Farben und Linien in der konkreten Malerei für sich stehen, löst sich das Wort aus dem umfassenden kommunikativen Prozeß, den wir Sprache nennen. Es tritt aus der Buchseite heraus und zeigt sich in seiner singulären Materialität.“17
Zu einem wichtigen geistigen Wegbereiter dieser neuen künstlerischen Bewegung avancierte Max Bense, der als Philosoph und Wissenschaftler (aber auch als Dichter) den Puls der Zeit aufnahm und Semiotik mit Ästhetik und Informatik verband – ein ambitionierter Versuch, Kunst rational zu erklären:
„das wort wird nicht in erster linie als intentionaler bedeutungsträger verwendet, sondern mindestens darüber hinaus auch als materiales gestaltungselement, aber so, dass bedeutung und gestaltung einander wechselseitig bedingen und ausdrücken … was aus zeichen besteht, kann übermittelt werden, unterliegt also der emission, der perzeption und der apperzeption, d. h. einem kommunikationsschema, das für ein spezielles zeichengefüge, wie es konkrete poesie darstellt, typisch sein kann.“18
Obwohl stark vom Geist der Computertechnologie beeinflusst, blieb die konkrete Poesie den analogen Entwurfsmethoden verhaftet. Die Worte entziehen sich ihrer konventionellen Bedeutung und werden zu analog-parametrisch veränderbaren Systemen einzelner Sprachelemente. In letzter Konsequenz reduzierte Eugen Gomringer, das Gedicht auf ein Wort, dessen Bedeutung und Form sich mit der Anordnung von Buchstaben permanent wandelte.
Das erinnert an Gerstner – alles ist perfekt geregelt, bleibt aber spielerisch und humorvoll: „Der Entwerfer muss versuchen, entsprechend dem Beispiel einer chemischen Reaktion, auf Grund einer Art von Formel eine Gruppe neuer Verbindungen zu finden. Hauptsache: die Formel. […]
So gibt es […] eine Formel in der Dichtung, die dieser Vorstellung entspricht. Das traditionelle Sprachgefüge ist aufgelöst. Keine Grammatik, keine Syntax. Die Elemente: Einzelwörter. Sie stehen in ihrer elementaren Form mit allen freien Valenzen lose in der Zeile. Die Spielregel: Permutation. Die entstehenden Gedichte heissen Konstellationen.“19
Die Darstellung der Sprache als visuelle Struktur begann nicht erst mit der konkreten Poesie. Stephan Mallarmé löste schon 1887 mit dem ‚Un Coup de Dés‘ die Linearität der Sprache auf und schaffte erstmalig eine freies Schriftbild – einen räumlichen Kosmos von Wort- und Gedankenkonstellationen.
Mallarmé ‚programmierte‘ ein System: Der Text besteht aus neun Motiven, die sich, typografisch eindeutig durch Schriftschnitte (gerade und kursiv), Schreibweisen (Versal- und gemischte Zeilen) und Schriftgrößen differenziert, ineinanderflechten und dem Leser immer wieder neue Leseangebote machen.
Mallarmé schuf damit die Bühne, auf der in den 1910er- bis 1920er-Jahren die Futuristen und Dadaisten mit selbstbewusster Nonchalance ihre Sprach- und typografischen Experimente aufführten und alle gesellschaftlichen Konventionen infrage stellten. In diesem radikalen Chaos schuf Kurt Schwitters in den 1920er-Jahren seine ‚Ursonate‘ – ein (sehr geregeltes) dadaistisches Lautgedicht, das auf der musikalischen Sonatensatzform basiert und erst 1932 von Jan Tschichold in ein typografisches System gebracht wurde.
Diese Arbeiten inspirierten John Cage. Neben seinen musikalischen sind hier seine literarischen Kompositionen besonders interessant: Das rhythmisch-programmierte System, das seinem 1959 veröffentlichten ‚Vortrag über Nichts‘ zugrunde liegt, definiert das typografische Erscheinungsbild und leitet den Vortragenden in Form einer visuellen Handlungs- bzw. Sprechanleitung.
Auch die Gruppe Oulipo, 1960 von Raymond Queneau und François Le Lionnais gegründet, machte die kreative Beschränkung durch Regeln zum Programm. Strikte Handlungs- bzw. Schreibanweisungen führten zu formalen Zwängen, die neue Denk- und Darstellungsformen ermöglichen. Der Roman ‚Gebrauchsanweisung‘ (1978) von Georges Perec, entworfen auf einer schachbrettartigen Struktur, eröffnet verschiedene Leselinien – ähnlich dem ‚Coup de Dés‘.
Auszug aus der Publikation: Stil System Methoden.