Komprehensive Systementwürfe

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Ein systemkritisches, aber darin auch ‚system-optimistisches‘ Denken wird in US-amerikanischen Positionen nach dem Zweiten Weltkrieg besonders greifbar, namentlich zum Beispiel bei John Cage oder Richard Buckminster Fuller. Bei aller ästhetischen Offenheit und Hinwendung zum Zufall zeichnet sich John Cages Vortrag über Nichts (1959) durch eine strenge strukturelle Gliederung aus, die den Text auch als einen Systementwurf auszeichnet.

 

Es handelt sich um eine Sprachkomposition, die ihre Gestaltungsprinzipien aus der Musik entlehnt, dabei aber ebenso radikal auf das Medium des Textuellen und der lecture-performance rekurriert. Cages Schreiben und ihre darin angelegte Systematik zwischen Musik, Text und Performance bringt eine neue Form des medialen Transfers zur Darstellung, der mit der herkömmlichen Unterscheidung der Begriffe Musik, Text und Performance/Darstellung nicht hinreichend bestimmt werden kann. Vielmehr greift er diese Unterscheidungen an und transferiert diese in ein neues hybrides Wechselspiel.

 

Eine rhythmische Einheit des Vortrags besteht aus 12 Zeilen, die wiederum jeweils in 4 Maßeinheiten pro Zeile unterteilt ist. Eine Einheit besteht in diesem Sinne aus 48 kleinsten Maßeinheiten, die in der deutschen Übersetzung auch als ‚Takte‘ bezeichnet werden. Allerdings verwendet Cage in diesem Kontext nicht den üblichen musikalischen Begriff ‚bar‘ für Takt, sondern ‚measures‘. Diese Zahl 48, die das formale Gliederungsschema einer Einheit chiffriert, wird nun auch zur formalen Gliederung des gesamten Vortragstextes herangezogen: Der ‚Vortrag über Nichts‘ besteht insgesamt aus fünf Teilen im Verhältnis von 7, 6, 14, 14 und 7 (= 48) Einheiten. Voneinander abgegrenzt werden die Einheiten durch ein kryptisches Schriftzeichen, das auch als offener Platzhalter für ein Geschehen, das der Text überhaupt nicht vorgibt und in diesem Sinne nicht beherrschen möchte, gedeutet werden kann. Deutlicher als in dieser Anlage der medialen Grundverfasstheit des Textes kann die wechselseitige Relation und Abhängigkeit von Systementwurf (greifbar in der formalen Gliederung des Textes) und Zufallseröffnung (greifbar in den Leerstellen und Pausen für Ereignis x) nicht auf den Punkt gebracht werden.

 

Ausgehend von der Aussage „ich bin hier, und es gibt nichts zu sagen“, gefolgt von der Absage einer utilitaristischen Kommunikation und der Hinwendung hin zur Stille erscheint diese Öffnung hin zum „nichts zu sagen“ als ein anderer Impuls, als ein Zustoß von erneuter Kommunikation. „Es gibt nichts zu sagen“ meint die Absage an Kommunikation, die Öffnung der Stille, „aber was die Stille will / ist, daß ich weiterrede“. Diese ‚Weiterrede‘ im Zeichen der Stille ist allerdings keine bloß ökonomische Rede des Austauschs von kommunikativen Inhalten, sondern sie steht unter dem Zeichen der „Poesie wie ich sie brauche“ und folgt dem Gesetz der Stille: „Ich habe nichts zu sagen / und sage es“.

 

Cages Vortrag ist ein ‚komponierter Vortrag‘, er verweist ausdrücklich auf den Aspekt der musikalischen Struktur und bezeichnet diese als ein ‚Gefäß‘ für erneute Kommunikationseinsätze. Eine Leitmetapher für die Anlage des Vortrags sei demnach das Betrachten von Landschaftsbildern aus einem fahrenden Zug heraus. Dies verdichtet sich im Bild von ‚Kansas‘: man „kann es verlassen / und wann immer man will zurückkehren.“ Darauf folgt jedoch sogleich die Antithese und Absage an diese Aussage, indem es heißt: „Oder man kann es / für immer verlassen und nie zurückkehren“1. Diese Einsicht in die Rückkehr- und Besitzlosigkeit nennt Cage ‚Poesie‘. Solch eine poetische Besitzlosigkeit verwandelt ‚Alles‘ in ein „Vergnügen / (da wir es nicht besitzen)/ und deshalb seinen Verlust nicht fürchten müssen“2.

 

Damit verbindet sich eine Befreiung der Vergangenheit und Gegenwart vom Wiederholungszwang und ihre Öffnung hin zur Begrüßung der Ungewissheit der Zukunft. Dennoch wird der ‚Vortrag über Nichts‘ in Skizzenstrichen zu einer Auseinandersetzung mit durchaus gewichtigen Debatten der Ästhetik und ihrer traditionellen Fragestellungen. Und im Hinblick auf die Frage nach dem System-Begriff werden insbesondere Cages Auseinandersetzungen mit den Begriffen Struktur und Material augenfällig. Für die Struktur ist der ‚Vortrag über Nichts‘ geradezu ein Plädoyer, denn „Struktur ohne Leben ist tot. Aber Leben ohne / Struktur ist nicht wahrzunehmen. Pures Leben drückt sich in und durch Struktur aus.“3 Struktur ist demnach das kognitive Vermögen zur Welterschließung des Nichts, das jedoch alles sein kann, jenseits des bloßen alltäglichen Geredes. In diesem Sinne ist Struktur ‚auf rationaler Ebene‘ ein „Mittel zur Erfahrung von nichts.“4
 

Cage formuliert einen Systementwurf, um den Systemen des falschen Bewusstseins und der verbrauchten Hörgewohnheiten entkommen zu können. Diese Stoßrichtung ähnelt dem Denken Adornos, sie wird aber verhaltener vorgetragen und formuliert nicht die kritische Polemik, die Adornos Zuspitzungen eigen ist. Cages Systementwurf kennzeichnet die Offenheit eines Vorschlags, es handelt sich dabei um eine mit dem Zufall gekreuzte Hybridbildung von systematischer Konzeption und ihrer Infragestellung durch die Exposition hin zum Zufall und der Interaktion desjenigen, der dem Systementwurf der jeweilig in Frage stehenden Darstellung im Sinne eines Ereignens und Erscheinens zur Präsenz – sei es eine Komposition, sei es ein Text, eine Gestaltung, eine Installation, ein Film oder eine Performance – folgt.

 

Es geht dabei folglich nicht um eine quasi dogmatische Umsetzung einer systematischen Vorgabe, sondern vielmehr um die Herausbildung eines eigenen Aspektes auf Basis der experimentellen Anlage des Systementwurfs, der sich für das andere Ereignen durch den Anderen, der dem Entwurf folgt, offen zeigt. Cages Ereignen kennzeichnet sich denn eher als eine Gabe denn als eine Vor-Gabe aus.5
In diesem Sinne heißt es im Mesostichon ‚Struktur‘ in Komposition im Rückblick: „die gliederung eineS ganzen /in Teile / deR aspekt / der neU / wirKsam wird“6.

 

Neben diesem kognitiven Vermögen der Strukturbildung als Voraussetzung eines Systementwurfs zur nicht-verdinglichten und nicht-entfremdeten Welterschließung7 erwähnt Cage „auf Sinnesebene“8 das Material. Auch dort gilt die Herausforderung der Verdinglichung und der Entfremdung der konventionellen Materialbeherrschung zu entgehen, wenn es darum geht, das Material als nichts und nicht als etwas in Erfahrung zu bringen.9 Dafür wird als Voraussetzung die Haltung von Liebe und Geduld dem Material gegenüber betont. Außerdem wird greifbar, dass ein authentischer Zugang zum Material als nichts für Cage mit einer Überwindung der in der Moderne ausgebildeten Hör- und Konsum-Konventionen von Musik, auch der Musik in Form und Deutung einer spezifischen westeuropäischen Musikgeschichte einher geht. In diesem Sinne diagnostiziert Cage eine ‚Intellektualisierung‘ des Ohrs bzw. des Hörens im Zuge der europäisch-amerikanischen/westlichen Musikentwicklung, die sich durch Ausschließungen (v. a. Geräusche) konstituiert und durch die Ausbildung eines prästabilierten Regelwerks (Tonalität) bis in die Moderne hinein unterhält, indem die Relation von Tönen und Klangfolgen als intellektuelles Spiel zugeordnet werden. Dadurch werden die Töne und ihre Relation zueinander zu etwas. Genau dieses ‚falsche‘ System des intellektualisierten und darum verdinglichten und entfremdeten Hörens aufgrund eines verstellten Zugangs zum Material stellt Cage mit seinem Systementwurf in Frage: „Ich verwendete Geräusche. / Sie waren nicht in-tellektualisiert; das Ohr konnte sie / unmittelbar hören und mußte ihretwegen keinerlei Abstraktionen durchlaufen.“10

 

In diesem Sinne erweist sich der Ansatz von Cage als ‚komprehensiv‘ im Sinne von Richard Buckminster Fuller.1112 Darunter versteht der Designer und Architekt eine kritische Reflexion und Überwindung der menschheitsgeschichtlichen Tendenz der ‚Spezialisierung‘: „Natürlich hat unser Versagen viele Ursachen, aber eine der wichtigsten ist vermutlich die Tatsache, daß die Gesellschaft nach der Devise verfährt, Spezialisierung sei der Schlüssel zum Erfolg; sie übersieht dabei, daß Spezialisierung komprehensives Denken ausschließt.“13

 

Spezialisierung zieht aber das Problem des unterkomplexen und kurzfristigen Problemlösens und das Verdrängen von komplexen und dringlichen Menschheitsfragen nach sich. Zudem wird eine nachhaltige und globale Sicht auf die Herausforderungen an die Menschheit verstellt. Genau bei diesen Defiziten setzt Buckminster Fullers Ansatz des komprehensiven Denkens und Gestaltens ein. Denn entgegen der spartenorientierten Spezialisierung umschreibt komprehensives Denken einen umfassenden und nachhaltigen Ansatz, der sich durch planerische Langfristigkeit auszeichnet und dadurch über die Kompetenz verfügt, die vereinzelten Fähigkeiten der allgemeinen Tendenz der Spezialisierung integrativ zu vernetzen und kreativ für dringliche Fragen und neue Erkenntnisse zu nutzen. Somit wird komprehensives Denken für Buckminster Fuller zum Maßstab und zur Herausforderung des Gestaltens. Nur ein komprehensiver Ansatz kann das für den Menschen wichtige Verstehen bereit stellen, dazu schreibt Buckminster Fuller: „Eins der wichtigsten Motive des Menschen ist es, zu verstehen und verstanden zu werden. Alle anderen Lebewesen sind für hochspezialisierte Aufgaben bestimmt. Nur der Mensch scheint als komprehensiv Verstehender zur Koordination der lokalen Angelegenheiten des Universums geeignet zu sein.“14
Eine Unterdrückung der komprehensiven Anlage des Menschen bewertet Buckminster Fuller in diesem Sinne als Zuwiderhandlung gegen die Verfasstheit des Menschen und seine Bestimmung, denn wäre „der Mensch im Gesamtplan der Natur als Spezialist gefragt, dann hätte sie ihn dazu gemacht, sie hätte ihn mit einem Auge zur Welt gebracht und mit einem daran befestigten Mikroskop versehen.“15

 
Der menschliche Verstand und die Funktionsweise des Gehirns sind vielmehr Anzeichen dafür, dass dem Menschen eine komprehensiv koordinierende und systematisierende Rolle zu eigen ist. Die Kraft der Systematisierung, die den Menschen in seiner intellektuellen Anlage auszeichnet, zeigt sich in dem Vermögen, allgemeine Prinzipien durch den Verstand begreifen zu können. In diesem Sinne schreibt Buckminster Fuller:„Der Verstand erfaßt und begreift die allgemeinen Prinzipien, wonach sich etwa das Fliegen und das Tiefseetauchen zu bestimmen hat, und der Mensch legt seine Flügel und Atemgeräte an, wenn er sie braucht, er legt sie ab, wenn er sie nicht braucht. Der Vogel ist als Spezialist stark durch seine Flügel behindert, sobald er zu gehen versucht. Der Fisch kann nicht aus dem Meer herauskommen und auf dem Land laufen, denn er ist wie der Vogel Spezialist.“16

 
Das Vorbild der komprehensiven Grundanlage des Menschen ist für Buckminster Fuller die Neugier und die Erfahrungsbildung des Kindes, die ebenso durch die ‚Brille der Spezialisierung‘ der Erwachsenenwelt früh durch Reglementierungen und Beschneidungen begrenzt werden. In diesem Sinne kritisiert er die strukturelle Unterdrückung von komprehensiven Anlagen: „Da jedes neue Leben fortwährend seine komprehensiven Anlagen manifestiert, würde ich gern einmal wissen, wie es kommt, daß wir die spontane und umfassende Neugier der Kinder mißachtet und mit unserer üblichen Erziehung bewußt Prozesse institutionalisiert haben, die nur zu enger Spezialisierung führen.“17

 

In diesem Sinne betrachtet Buckminster Fuller auch das „historische Gesamtmuster“18 der Menschheitsentwicklung unter diesem Aspekt der Spezialisierung. Dabei betont er, dass – ausgehend von wenigen komprehensiv veranlagten Machthabenden und Führerpersönlichkeiten – die große Masse der Menschheitsbevölkerung zur Spezialisierung getrieben und somit beherrscht wird. Spezialisierung wird damit zu einem Modus des Beherrschtwerdens und führt zu einer beschränkten Sicht: „Noch im Jahre 1969 sind wir – trotz unserer neuentwickelten kommunikativen Intimität und des allgemeinen Bewußtseins von der Erde als Ganzheit – ebenso befangen und nach Maßgabe einer ausschließenden und völlig veralteten souveränen Separatheit politisch organisiert.“19

 

Im Angesicht der globalen Herausforderungen für die Menschheit im 20. und 21. Jahrhundert spricht sich Buckminster Fuller für eine allumfassende Aktivierung der komprehensiven Potentiale des Menschen im Sinne eines gestalterischen Denkens im Weltmaßstab aus. Er formuliert damit auch ein radikales politisches Programm: „Dieser ‚souveräne‘ – das heißt mit Waffensystemen erzwungene – ‚nationale‘ Anspruch auf Menschen, die in verschiedenen Ländern geboren sind, führt zu immer ernsterer spezialisierter Knechtschaft und zu äußerst personalisierter Identitätsfeststellung. Infolge sklavischer ‚Kategoritis‘ werden die wissenschaftlich unlogischen und – wie wir sehen werden – oft sinnlosen Fragen ‚Wo wohnst du?‘, ‚Was bist du?‘, ‚Welche Religion?‘, ‚Welche Rasse?‘, ‚Welche Nationalität?‘ allesamt heute für logische Fragen gehalten.“25

 

Buckminster Fuller formuliert damit nicht weniger als eine Kritik und Absage an bisherige Paradigmen des Politischen und der Identität und fordert eine neue Systematisierung des Politischen auf der Basis der komprehensiven Grundanlage des Menschen und seiner Verfasstheit im Sinne eines globalen Wesens. Keimzelle dieses erneuten Aufbruchs in ein komprehensives Denken ist für Buckminster Fuller das Design. Komprehensives Denken erweist sich dabei als die favorisierte Methode für diese neuen Systementwürfe des planerischen Gestaltens im Weltmaßstab. Darin liegt seine Relevanz und auch sein ganz eigener Stil.

 

Buckminster Fuller verweist aber auch wie kaum ein Zweiter darauf, dass sich Systementwürfe im Design mit einer Frage des Wissens und der Wissenschaftlichkeit verbinden. Die Spezialisierung ist für ihn auch wissenschaftlich eine fragwürdige Methode im Angesicht der dringlichen Fragen für die globale Menschheit im 20. und 21. Jahrhundert.

 
Auszug aus der Publikation: Stil System Methoden.
Weiterführender Text

  1. Cage/Vortrag 1969, S. 6
  2. ebd., S. 6
  3. ebd., S. 9
  4. ebd., S. 10
  5. Vgl. grundlegend zu einer Deutung Cages im Horizont von Gabe und Ereignis: Mersch 2002, S. 278–289
  6. John Cage/Komposition 2012, S. 44
  7. Vgl. dazu auch folgende Sentenz aus Komposition im Rückblick: „der umsTand daß man / das gleIche / nicht nOch einmal / macheN kann / gIbt die möglichkeit / etwas zu macheN / das anders isT / zu lEben zwar / Nicht in / der gleichen sTadt aber / das leben zu fInden / indem man es sO lebt / wie keiN anderer“ (John Cage/Komposition 2012, S. 46)
  8. Cage/Vortrag 1969, S. 10
  9. Vgl. ebd. S. 10
  10. ebd., S. 13
  11. Buckminster Fuller/Komprehensive 2010, S. 10–20
  12. 12 ebd., S. 13
  13. ebd., S. 14
  14. ebd., S. 14
  15. ebd., S. 14
  16. ebd., S. 14/15
  17. ebd., S. 15
  18. ebd., S. 16
  19. ebd., S. 20