System & Systemkritik

Der Begriff ‚Stil‘ leitet sich vom lateinischen Wort ‚stilus‘ ab. Dies bezeichnet den Schreibgriffel, also das Werkzeug zum Schreiben. Im Verlauf seiner Wortgeschichte tritt diese Bedeutung allerdings zurück und in den Vordergrund tritt nunmehr die Bedeutung der „Art und Weise zu schreiben“ als Bezeichnung für den Stil. Auch diese Verdichtung auf den Schreibstil wird bis in unsere heutige Zeit erweitert auf die allgemeine Grundbedeutung der „Art und Weise etwas zu tun“.

 

Damit ist Stil untrennbar an eine spezifische Handlungsdimension gekoppelt. Ebenso kennzeichnet die Unterscheidung, aber auch wechselseitige Beziehung von Individualstil und Epochenstil eine grundsätzliche Dimension der Diskussion und Verwendung des Stilbegriffs. Der Individualstil verweist auf den individuellen und singulären Impuls eines kreativen subjektiven Ausdrucks, der in Form einer Gestaltung an Darstellung und Präsenz gewinnt. Dem steht der Epochenstil als Kategorie der Kunstkritik gegenüber, der anhand einer Sammlung und Kategorisierung von spezifischen Merkmalen ein übergeordnetes Stilkonzept (z. B. Barock, Klassik, Moderne etc.) formuliert.

 

Johann Wolfgang Goethe untersucht in seinem kunstkritischen Text ‚Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil‘ den Stil auf der Grundlage der Diskussion und Unterscheidung der Nachahmung der Natur und der Manier. Unter einfacher Nachahmung der Natur versteht Goethe die detailgetreue Abbildung des einzelnen Naturphänomens in seinen allgemeinen Grundzügen unter möglichst strenger Ausblendung von subjektiven Eindrücken. In diesem Sinne steht sie der Manier gegenüber, handelt es sich bei dieser doch um einen subjektiv hervorgebrachten Ausdruck für ein Naturphänomen.

 

Der Stil bei Goethe wird auf dieser Folie von Naturnachahmung und Manier als deren Aufhebung greifbar: Einerseits zeigt er sich der einfachen Nachahmung der Natur verpflichtet, hebt diese aber ab von der Naivität der Detailversenkung und zielt auf die „Grundfesten der Erkenntnis“ auf das „Wesen der Dinge“1.

 

Andererseits tariert der Stil den manieristischen Grundimpuls, die Einbeziehung der Individualität des gestaltenden Subjekts, dahingehend produktiv aus, sodass die Darstellung nicht den Bezug zum Naturphänomen verliert. Insofern zeigt sich der Stil als eine Art Schaltstelle, die gewährleisten kann, dass sowohl Naturnachahmung als auch Manier nicht in ihre jeweils angelegten Verfallsformen (Naivität/überstiegener Individualismus) umschlagen.

 

Und darin liegt gewissermaßen die systematische Dimension des Stils. Bereits für die virtuose, von Goethe hoch geschätzte, einfache Nachahmung der Natur wird deutlich, dass sie systematischen Charakter gewinnt, wenn der Künstler vom Einzelphänomen her kommend quasi zum Medium einer ganzheitlichen Darstellung eines systematischen Komplexes wird.

 

In diesem Sinne heißt es bei Goethe: „Es ist offenbar, daß ein solcher Künstler nur desto größer und entschiedener werden muß, wenn er zu seinem Talente noch ein unterrichteter Botaniker ist: wenn er, von der Wurzel an, den Einfluß der verschiedenen Teile auf das Gedeihen und den Wachstum der Pflanze, ihre Bestimmung und wechselseitige Wirkungen erkennt; wenn der die sukzessive Entwicklung der Blätter, Blumen, Befruchtung, Frucht und des neuen Keimes einsiehet und überdenkt. Er wird alsdenn nicht bloß durch die Wahl aus den Erscheinungen seinen Geschmack zeigen, sondern er wird uns auch durch eine richtige Darstellung der Eigenschaften zugleich in Verwunderung setzen und belehren. In diesem Sinne würde man sagen können, er habe sich einen Stil gebildet […].“2

 

Es ist also der Stil, der die einfache Nachahmung der Natur zur systematischen Einsicht und Darstellung werden lässt. Stil ist bei Goethe die Eröffnung der Einsicht in einen systematischen Zusammenhang. Dies ist vergleichbar mit weiteren Prägungen, die der Systembegriff im Zuge des 18. Jahrhunderts erfahren hat. Grundsätzlich bedeutet ‚systema‘ in altgriechischer und lateinischer Herkunft ‚Zusammenstellung‘, gemeint ist also die Darstellung von Einzelteilen/Partikeln, die in ihrem Wechsel- und Zusammenspiel ein übergeordnetes Ganzes‚ zusammenstellen‘.

 

Im Kontext seiner philosophischen Arbeit definiert Immanuel Kant ein System als „die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee“3. Sein Vorbild ist dabei eine Einheit in architektonischer Gliederung. In diesem Zusammenhang kann die überaus positive Aufwertung und Wendung des Systembegriffs gar nicht überbewertet werden, denn ohne die Voraussetzung eines Systems erscheinen bei Kant bspw. Philosophie, Wissenschaft, Ethik und Erkenntnis als überhaupt nicht denkbar.

 

In diesem Sinne mag es nicht überraschen, wenn Georg Wilhelm Friedrich Hegel eine Generation später schreibt: „Ein Philosophieren ohne System kann nichts Wissenschaftliches sein; außerdem, daß solches Philosophieren für sich mehr eine subjektive Sinnesart ausdrückt, ist es seinem Inhalte nach zufällig.“4 Das System bzw. der systematische Zusammenhang bildet folglich den Rahmen, der eine Erkenntnis von einer zufälligen Meinung unterscheidet.

 

Spätesten damit wird auch die Grenzziehung zum Zufall sinnfällig, von der sich in diesem Denken das systematische Vorgehen grundsätzlich unterscheiden soll. Damit ist ein Komplex angesprochen, der den Diskurs um die Frage und den Begriff des Systems bis in aktuelle Debatten und Konzeptionen betrifft. Die emphatische Aufwertung des Systembegriffs an der Epochenschwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert kann in dieser Hinsicht als ein groß angelegtes Versprechen der Überwindung der Wechselfälle und Unsicherheiten des Zufalls angesehen werden.

 

Diese epistemische Leistungsfähigkeit und das Grundversprechen, das sich in der Formulierung solch eines emphatischen Systembegriffs darlegt, erscheinen in der Moderne zunehmend herausgefordert und in Frage gestellt. Gesellschaftliche und technische Umbrüche sowie wissenschaftliche und ästhetische Innovationen lassen Zweifel aufkommen, ob ein systematischer Entwurf überhaupt noch die Komplexität der modernen condition humaine an der Epochenschwelle um 1900 in existenzieller und politischer Hinsicht darzustellen vermag.

 
Spätestens mit der Karriere des Begriffs der Krise, der kulturhistorisch mit einigem Recht als moderner Gegenpol zur klassischen System-Emphase eingeschätzt werden kann, und den zivilisatorischen Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkriegs sowie des Holocaust, die in ihrer Dimension bisher nicht gekannter Gewalttätigkeit immer auch auf Verfahrensweisen und Zwänge des Systematischen zurückgeführt werden können, steht der System-Begriff für eine Reihe von einflussreichen Denkern und Theoretikern unter Generalverdacht.

 

Ein Beispiel dafür ist die kritische Position Theodor W. Adorno. Anhand der Rekapitulation seiner Konzeption und Kritik des Begriffs ‚Kulturindustrie‘ wird die Distanz zum Systembegriff klassischer Provenienz greifbar. Der Systemcharakter der Kulturindustrie offenbart sich durch eine Integration von oben durch Wirtschaft, Verwaltung und Technik.
 
Adorno unterstreicht dabei die Allesdurchdringung und Berechnung des Profitmotivs und des Konsums: „In all ihren Sparten werden Produkte mehr oder minder planvoll hergestellt, die auf den Konsum durch Massen zugeschnitten sind und in weitem Maß diesen Konsum von sich aus bestimmen. Die einzelnen Sparten gleichen der Struktur nach einander oder passen wenigstens ineinander. Sie ordnen sich fast lückenlos zum System. Das gestatten ihnen ebenso die heutigen Mittel der Technik wie die Konzentration von Wirtschaft und Verwaltung. Kulturindustrie ist willentliche Integration ihrer Abnehmer von oben.“5
 

Damit hat der Begriff des Systems seine Unschuld verloren. Aber dennoch: Trotz dieser Kritik und der Komplizenschaft mit Gewaltaspekten, die sich durch den Willen und den Voraussetzungen der Integration ins System begründen, wird im Zuge des 20. Jahrhunderts der Grundimpuls des Systematischen, nämlich die Sammlung und Deutung von Einzelphänomenen unter der ordnenden Funktion eines übergeordneten Konzeptes, um so verbindliche Aussagen mit entsprechender Geltungskraft zu formulieren, nicht vollständig aufgegeben.

 

Im Gegenteil: Neben groß angelegten Systemtheorien Niklas Luhmann reflektieren zahlreiche Theorien und Konzeptionen gerade innerhalb ihres systematischen Vorgehens die Grenzen und Fragwürdigkeiten von Systematisierungen und treiben damit eine immanente ‚zweite Reflexion‘ des Systembegriffs innerhalb von Systematisierungen voran. Kritische Theorie und Dekonstruktion, Diskursanalyse und aktuelle Phänomenologie verweisen in dieser Hinsicht auf gemeinsame Schnittstellen.
 

Auszug aus der Publikation: Stil System Methoden.
Weiterführender Text

  1. Goethe, Johann Wolfgang v.: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil, in: Ders.: Werke, Band 12, Hamburger Ausgabe, München 1998, S. 30–34/585–587, hier S. 32
  2. ebd. S. 33
  3. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Ingeborg Heidemann, Stuttgart 1998, S. 839 (B 860/A 832)
  4. Hegel, Georg W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hg. v. Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler, Hamburg 1959, S. 48 (Einleitung)
  5. Adorno 1997, S. 337